Outsider Art auf dem Weg zur Inklusion

Künstlerische Werke von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung oder geistiger Behinderung werden noch nicht lange als Kunst wahrgenommen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts interessierten sich Psychiater dafür, jedoch zunächst ausschließlich unter diagnostischen Gesichtspunkten. Um den Ersten Weltkrieg machten einige kunstinteressierte Fachkollegen dann erstmals auf den ästhetischen Wert dieser Werke aufmerksam, am nachdrücklichsten Hans Prinzhorn mit seinem umfangreichen Buch „Bildnerei der Geisteskranken“ (1922). Nun begannen sich Künstler, zunächst Expressionisten und Surrealisten, für „Irrenkunst“ zu interessieren, ließen sich von den angeblich rein unbewusst hervorgebrachten, „echten“ Werken in ihrem eigenen Schaffen beeinflussen und nahmen sie schließlich sogar in ihre Ausstellungen auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte der französische Künstler Jean Dubuffet die Idee fort und propagierte eine Art brut, eine Laien-Kunst des einfachen Mannes, die an Authentizität der „kulturellen Kunst“ überlegen sei. Doch auch dieser Kritik am Kunstestablishment fand vor allem bei anderen Künstlern Gehör; Art brut war lange eine „Künstlerkunst“.

Erst um 1970 spezialisierten sich in den USA die ersten kommerziellen Galerien auf Art brut oder, wie es seit 1972 mit dem Titel eines Buches von Roger Cardinal heißt, Outsider Art, und die ersten Sammlungen von Nicht-Künstlern entstanden. 1972 schloss auch die Kasseler documenta 5 zum ersten Mal Werke von Außenseitern ein. Seitdem ist die Etablierung dieser „Kunst am Rand der Kunst“ stetig fortgeschritten. Es gibt heute in der ganzen westlichen Welt eine Fülle von spezialisierten Galerien und seit den 1990er Jahren sogar eine eigene jährliche Kunstmesse in New York (mittlerweile mit Zweig in Paris). Dubuffets Art brut-Sammlung eröffnete 1976 ein eigenes Museum in Lausanne, Prinzhorns Sammlung von Kunst aus Psychiatrien 2001 ein Haus in Heidelberg, und weltweit sind spezialisierte Museen oder Museumsabteilungen gefolgt. Outsider Art werden immer wieder Ausstellungen in Kunstmuseen gewidmet, und zunehmend wird sie auch in andere Themenausstellungen integriert, am prominentesten bislang auf der Biennale in Venedig 2013 in der Groß-Schau „Palazzo Enciclopedico“. Der nächste Schritt wird darin bestehen, dass mehr und mehr Häuser für moderne und zeitgenössische Kunst Outsider Art erwerben und sie in ihren Dauerausstellungen präsentieren. Bis dahin wird der in vieler Hinsicht fragwürdige Begriff „Outsider Art“ noch seine wichtige Funktion als Label behalten, ohne das die damit bezeichneten Werke in unserer heutigen Kunstszene nach wie vor kaum wahrgenommen würden.

Die Ausstellung, zu der dieser Katalog erscheint, belegt, dass heute an vielen Bildern und Skulpturen selbst kaum mehr entschieden werden kann, ob ihre Schöpfer eine akademische Ausbildung haben oder nicht. Das liegt zum einen daran, dass akademische Künstler sich seit langem bemühen, jegliche Akademismen abzustreifen, um Werke zu schaffen, die Inhalte „direkter“ vermitteln – und sich dafür auch an Outsider Art orientieren. Zum anderen ist dafür verantwortlich, dass viel Outsider Art heute in Offenen Ateliers entsteht, die bereits grundsätzlich die Idee von Kunst im Sinne symbolischer Repräsentation vermitteln; manche sehen sich sogar als alternative Kunstakademien, die ihre Teilnehmer auf den ersten Kunstmarkt vorbereiten.
Doch kann Inklusion von Outsider Art in die Kunst nicht Ununterscheidbarkeit im Sinne einer Anpassung bedeuten. Vielmehr sollten bei einer echten Inklusion die Eigenheiten der Outsider Art im Blick behalten und als Bereicherung des Ganzen begriffen werden. Denn es gibt Unterschiede zur akademischen Kunst, auch wenn sie sich nicht überall finden und Übergänge oftmals fließend sind. Werke akademischer Künstler entstehen für gewöhnlich nach Auseinandersetzung mit Traditionen und einer längeren eigenen Entwicklung. Gerade in der zeitgenössischen Kunst ist eine mannigfaltige, ablesbare Vernetzung der Werke gewünscht, die einen hohen Reflexionsgrad von Werk und Urheber nachweisen soll. Das jeweils neue Werk folgt ästhetischen Überlegungen, die Möglichkeiten der Gestaltung öffnen oder weiterentwickeln, zugleich aber andere ausschließen. Viele Outsider-Künstler kennen solche strategischen Entscheidungen und Vermeidungsregeln nicht. Sie arbeiten einfach drauflos, weil sie bestimmte Inhalte dazu drängen. Einige denken noch nicht einmal daran, Kunst im Sinne symbolischer Repräsentation zu produzieren, sondern wollen mit ihrem Handeln und Formen auf alternative Weise in die Wirklichkeit eingreifen, etwa indem sie damit die vermeintliche Realität ihrer Weltsicht zu beweisen oder magische Wirkung auszuüben meinen. Sie können dabei trotzdem ästhetische Überlegungen einbeziehen, stellen sie allerdings oftmals zugunsten ihnen wichtiger Inhalte immer wieder zur Disposition und verlieren sie im Akt des Gestaltens scheinbar sogar aus dem Blick, indem sie einfach fortarbeiten. Gerade diese Art des Schaffens führt immer wieder zu großer Originalität und eindringlicher Wirkung der Werke.

Erst wenn wir uns daran gewöhnt haben, beim Betrachten eines Kunstwerks davon auszugehen, dass es sich auch solchen ungewöhnlichen Entstehungsbedingungen und Absichten verdanken kann, ist eine Inklusion im Sinne einer bedingungslosen Annahme und Wertschätzung menschlicher Heterogenität geglückt.

Thomas Röske | Leiter der Sammlung Prinzhorn der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg

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